Rund 500 Jahre liegen zwischen zwei der bekanntesten Wahrzeichen Basels. Und trotzdem haben sie viel mehr gemeinsam, als man denkt: Im 18. Jahrhundert kam fürs Spalentor der Name „Paulustor“ oder „St. Pauls-Tor“ in Gebrauch, der heute wieder vollständig verschwunden ist. Aber wie kam es zu dieser sakralen Verballhornung?
Ob sich Karl Moser angesichts der verblüffend ähnlichen Proportionen vom Spalentor hatte inspirieren lassen? (Collage)
Der Basler Historiker Ernst Alfred Stückelberg (1867–1926) legte in seinem Nachschlagewerk „Basler Kirchen“ (1917 bei Helbing & Lichtenhahn erschienen) eine Ableitung von einer dem Hl. Paulus gewidmeten Kirche im ehemaligen Kloster Gnadental an der Spalenvorstadt nahe. Er bezog sich auf eine lateinische Urkunde vom 29. Januar 1346, die der jurassische Gelehrte Joseph Trouillat in seiner fünfbändigen Sammlung „Monuments de l’histoire de l’ancien évêché de Bâle“ transkribiert hatte und den entscheidenden Satz über die Weihung der Kirche enthielt: „ecclesiam vero in honore sancti Pauli apostoli. consecravimus et dedicavimus".
Stückelbergs These sorgte für einen regelrechten Gelehrtenstreit. Nur kurze Zeit später meldete sein Kollege, Althistoriker Felix Stähelin (1873–1952), entschiedene Einwände an und zitiert seinerseits den Historiker Daniel Albert Fechter (1805–1876), der schon 1852 im von ihm herausgegebenen „Basler Taschenbuch“ Paulus als Namensgeber als „burlesken Einfall“ und „ein einzig in seiner Art dastehendes sprachliches Taschenspielerstück“ bezeichnete. Stähelin argumentierte dahingehend, dass seines Wissens keine einzige Urkunde existiere, in der die besagte Klosterkirche als St. Paulus-Kirche bezeichnet worden sei. Es sei vielmehr einfach als „Gnadental“ oder mit späteren, ebenso vorübergehenden Patrozinien („St. Clara extra muros“, „St. Laurentius“) betitelt worden – wobei Stähelin einräumte, dass ihm die hagiografischen Spezialkenntnisse fehlten.
Stückelberg erwiderte darauf wiederum, dass Patroziniumswechsel sehr selten seien und in Basel bis dato noch nie nachweisbar waren. Die von Stähelin ins Feld geführten Patronate St. Clara und St. Laurentius hätten sich demnach auf den Chor resp. einen Altar in der Klosterkirche bezogen; die Nennung von St. Clara wurde in der Folge vermieden, um Verwechslungen mit dem Clarissenkloster im Kleinbasel auszuschliessen. Stähelin hielt es in einer letzten Replik für unmöglich, dass erst zwei Jahrhunderte nach der Reformation auftauchende Heiligenbezeichnungen von einem seit 1346 nicht mehr belegten Patrozinium abgeleitet werden könne. Die von Fechter propagierte Herleitung des Begriff „Spalen“ vom lateinischen palus („Pfahl“, „Palisade“) ist historisch sehr gut dokumentiert und heute breit akzeptiert. Was hingegen das seit 1755 belegte (Wieder-)Auftauchen eines Pauluspatronats rund um die Spalenvorstadt bewirkte (selbst für den Spalenberg fand sich der Name „St. Paulusberg“), kann nur vermutet werden.
Ob es vielleicht findige Frankophile waren, die Basels Nähe zu Frankreich betonen wollten? Stückelberg deutete an, dass es in sundgauischen Geschichtsquellen oder Reisebeschreibungen von Konzilsprälaten und Hugenotten weitere Belege für seine These geben müsse. Er verwies darauf, dass in französischer Sprache die Kirche „église St-Paul“, die Spalenvorstadt „faubourg St-Paul“ (St. Pauls-Vorstadt) und das Spalentor eben „porte St-Paul“, also St. Pauls-Tor, heissen würden. Er zog einen Vergleich zum solothurnischen Gänsbrunnen (französisch „Saint-Joseph“) und hielt fest: „Der Katholik bevorzugt also die religiöse, der deutsch redende Protestant die profansachliche Ortsbezeichnung“. Ein Stahlstich, den der englische Zeichner William Tombleson 1835 anfertigte, belegt jedenfalls, dass die Bezeichnung „Paulustor“ über die Stadtgrenzen hinaus Verbreitung fand.
Offen bleibt, ob all diese Tatsachen dem evangelisch-reformierten Kirchenrat bekannt waren, als die Namensgebung der Pauluskirche diskutiert wurde. Der Name „Markuskirche“ war auch im Gespräch und der ursprüngliche Wunschname „Neu St. Leonhard“ wurde vom Regierungsrat abgelehnt. Hätte man danach anders entschieden, wenn man gewusst hätte, dass das heutige Kornhaus früher mal die erste Basler Pauluskirche war?
Folgender Fun Fact rundet die mutmassliche Verwandtschaft der versteckten Zwillinge ab: Der Bauplatz, wo die Pauluskirche ab 1898 nur wenige hundert Meter vom Spalentor entfernt errichtet wurde, war zuvor ein Landgut im Besitz der Familie Legrand, die im 16. Jahrhundert als hugenottische Flüchtlinge nach Basel kamen, und deren berühmtestes Mitglied Johann Lukas Legrand (1755–1836) erster Präsident des französischen Vasallenstaates (der „République helvétique“) und somit einer nationalen Regierung in der Schweizer Geschichte wurde.
So wie also das Spalentor die kurze Renaissance seines verballhornten Zweitnamens massgeblich den Französischsprachigen zu verdanken haben könnte, ist auch die Pauluskirche gewissermassen auf französisch geprägtem Fundament gebaut – in doppeltem Sinne, der Sandstein der Kirchenmauern stammt nämlich teilweise aus Luxeuil-les-Bains in den Vogesen.
Text und Recherche: David Rossel
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